"Nichts sahen sie, diese Menschen, nichts wußten und merkten sie,
nichts sprachzu ihnen! Einerlei, ob da ein armes holdes Tier vor
ihren Augen verreckte oder ob ein Meister in einem Heiligengesicht
alle Hoffnung, allen Adel, alles Leid und alle dunkle schnürende
Angst des Menschenlebens zum Erschauern sichtbar machte – nichts
sahen sie, nichts ergriff sie! Alle waren sie vergnügt oder
beschäftigt, hatten es wichtig, hatten es eilig, schrien, lachten
und rülpsten einander an, machten Lärm, machten Witze, zeterten
wegen zwei Pfennigen, und allen war es wohl, sie waren alle in
Ordnung und höchlich mit sich und der Welt zufrieden. Schweine waren
sie, ach viel schlimmer und wüster als Schweine! Nun ja, er selber
war oft genug mitten unter ihnen gewesen, hatte sich froh unter
ihresgleichen gefühlt, war den Mädchen nachgetrieben, hatte vom
Teller lachend und ohne Grausen gebackene Fische gegessen. Aber immer
wieder hatte ihn, oft ganz plötzlich wie durch Zauber, die Freude
und Ruhe verlassen, immer wieder war dieser fette feiste Wahn von ihm
abgefallen, diese Selbstzufriedenheit, Wichtigkeit und faule
Seelenruhe, und es hatte ihn hinweggerissen, in die Einsamkeit und
ins Grübeln, auf die Wanderschaft, zur Betrachtung des Leides, des
Todes, der Zweifelhaftigkeit alles Treibens, zum Starren in den
Abgrund. Manchmal war ihm dann aus der hoffnungslosen Hingabe an den
Anblick des Sinnlosen und Furchtbaren plötzlich eine Freude
aufgeblüht, eine heftige Verliebtheit, die Lust, ein schönes Lied
zu singen oder zu zeichnen, oder im Riechen an einer Blume, im
Spielen mit einer Katze war ihm das kindliche Einverstandensein mit
dem Leben wieder zurückgekehrt. Auch jetzt würde es wiederkehren,
morgen oder übermorgen, und die Welt würde wieder gut und
vortrefflich sein. Bis eben das andere wiederkam, die Traurigkeit,
das Grübeln, die hoffnungslose beklemmende Liebe zu den sterbenden
Fischen, den welkenden Blumen, der Schrecken über das stumpfe
sauische Hinleben und Gaffen und Nichtsehen der Menschen."
Hermann Hesse, aus "Narziß und Goldmund", Zwölftes Kapitel