Freitag, 17. Dezember 2021

Blinde Menschen, Bipolarität


"Nichts sahen sie, diese Menschen, nichts wußten und merkten sie, nichts sprachzu ihnen! Einerlei, ob da ein armes holdes Tier vor ihren Augen verreckte oder ob ein Meister in einem Heiligengesicht alle Hoffnung, allen Adel, alles Leid und alle dunkle schnürende Angst des Menschenlebens zum Erschauern sichtbar machte – nichts sahen sie, nichts ergriff sie! Alle waren sie vergnügt oder beschäftigt, hatten es wichtig, hatten es eilig, schrien, lachten und rülpsten einander an, machten Lärm, machten Witze, zeterten wegen zwei Pfennigen, und allen war es wohl, sie waren alle in Ordnung und höchlich mit sich und der Welt zufrieden. Schweine waren sie, ach viel schlimmer und wüster als Schweine! Nun ja, er selber war oft genug mitten unter ihnen gewesen, hatte sich froh unter ihresgleichen gefühlt, war den Mädchen nachgetrieben, hatte vom Teller lachend und ohne Grausen gebackene Fische gegessen. Aber immer wieder hatte ihn, oft ganz plötzlich wie durch Zauber, die Freude und Ruhe verlassen, immer wieder war dieser fette feiste Wahn von ihm abgefallen, diese Selbstzufriedenheit, Wichtigkeit und faule Seelenruhe, und es hatte ihn hinweggerissen, in die Einsamkeit und ins Grübeln, auf die Wanderschaft, zur Betrachtung des Leides, des Todes, der Zweifelhaftigkeit alles Treibens, zum Starren in den Abgrund. Manchmal war ihm dann aus der hoffnungslosen Hingabe an den Anblick des Sinnlosen und Furchtbaren plötzlich eine Freude aufgeblüht, eine heftige Verliebtheit, die Lust, ein schönes Lied zu singen oder zu zeichnen, oder im Riechen an einer Blume, im Spielen mit einer Katze war ihm das kindliche Einverstandensein mit dem Leben wieder zurückgekehrt. Auch jetzt würde es wiederkehren, morgen oder übermorgen, und die Welt würde wieder gut und vortrefflich sein. Bis eben das andere wiederkam, die Traurigkeit, das Grübeln, die hoffnungslose beklemmende Liebe zu den sterbenden Fischen, den welkenden Blumen, der Schrecken über das stumpfe sauische Hinleben und Gaffen und Nichtsehen der Menschen."

Hermann Hesse, aus "Narziß und Goldmund", Zwölftes Kapitel 

Samstag, 30. Oktober 2021

Sinnesmenschen vs Geistmenschen

"Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im Luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mit scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben..."

Hermann Hesse
aus "Narziß und Goldmund",1930. viertes Kapitel, Narziß' Ansprache an Goldmund  

Dienstag, 29. Oktober 2019

Vagantenleben


"In den ersten Zeiten seiner neuen Wanderschaft, im ersten gierigen Taumel der wiedergewonnenen Freiheit, mußte Goldmund erst wieder lernen, das heimatlose und zeitlose Leben der Fahrenden zu leben. Keinem Menschen gehorsam, abhängig nur von Wetter und Jahreszeit, kein Ziel vor sich, kein Dach über sich, nichts besitzend und allen Zufällen offen, fuhren die Heimatlosen ihr kindliches und tapferes, ihr ärmliches und starkes Leben. Sie sind die Söhne Adams, des aus dem Paradies Vertriebenen, und sind die Brüder der Tiere, der unschuldigen. Aus der Hand des Himmels nehmen sie Stunde um Stunde, was ihnen gegeben wird: Sonne, Regen, Nebel, Schnee, Wärme und Kälte, Wohlsein und Not, es gibt für sie keine Zeit, keine Geschichte, kein Streben und nicht jenen seltsamen Götzen der Entwicklung und des Fortschritts, an den die Hausbesitzer so verzweifelt glauben. Ein Vagabund kann zart oder roh sein, kunstfertig oder tölpisch, tapfer oder ängstlich, immer aber ist er im Herzen ein Kind, immer lebt er am ersten Tage, vor Anfang aller Weltgeschichte, immer wird sein Leben von wenigen einfachen Trieben und Nöten geleitet. Er kann klug sein oder dumm, er kann tief in sich wissend sein, wie gebrechlich und vergänglich alles Leben ist und wie arm und angstvoll alles Lebendige sein bißchen warmes Blut durch das Eis der Welträume trägt, oder er kann bloß kindisch und gierig den Befehlen seines armen Magens folgen – immer ist er der Gegenspieler und Todfeind des Besitzenden und Seßhaften, der ihn haßt, verachtet und fürchtet, denn er will nicht an all das erinnert werden: nicht an die Flüchtigkeit alles Seins, an das beständige Hinwelken alles Lebens, an den unerbittlichen eisigen Tod, der rund um uns das Weltall erfüllt.

Die Kindlichkeit des Vagantenlebens, seine mütterliche Herkunft, seine Abkehr von Gesetz und Geist, seine Preisgegebenheit und heimliche immerwährende Todesnähe hatten längst Goldmunds Seele tief ergriffen und geprägt. Daß dennoch Geist und Wille in ihm wohnte, daß er dennoch ein Künstler war, machte sein Leben reich und schwierig. Jedes Leben wird ja erst durch Spaltung und Widerspruch reich und blühend. Was wäre Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch, was wäre Sinnenlust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde, und was wäre Liebe ohne die ewige Todfeindschaft der Geschlechter?"

Hermann Hesse, aus "Narziß und Goldmund", Dreizehntes Kapitel

Gegensätze


"Es war ja schmählich, wie man vom Leben genarrt wurde, es war zum Lachen und zum Weinen! Entweder lebte man, ließ seine Sinne spielen, sog sich voll an der Brust der alten Eva-Mutter – dann gab es zwar manche hohe Lust, aber keinen Schutz gegen die Vergänglichkeit, man war dann wie ein Pilz im Walde, der heut in schönen Farben strotzt und morgen verfault ist. Oder man setzte sich zur Wehr, man sperrte sich in eine Werkstatt ein und suchte dem flüchtigen Leben ein Denkmal zu bauen – dann mußte man auf das Leben verzichten, dann war man bloß noch Werkzeug, dann stand man zwar im Dienst des Unvergänglichen, aber man dorrte dabei ein und verlor die Freiheit, Fülle und Lust des Lebens. So war es dem Meister Niklaus ergangen.

Ach, und es hatte dies ganze Leben doch nur dann einen Sinn, wenn beides sich erringen ließ, wenn das Leben nicht durch dies dürre Entweder-Oder gespalten war! Schaffen, ohne dafür den Preis des Lebens zu bezahlen! Leben, ohne doch auf den Adel des Schöpfertums zu verzichten! War denn das nicht möglich?

Vielleicht gab es Menschen, denen es möglich war. Vielleicht gab es Ehemänner und Familienväter, denen über der Treue nicht die Sinnenlust verlorenging? Vielleicht gab es Seßhafte, denen der Mangel an Freiheit und an Gefahr das Herz nicht eindorren ließ? Vielleicht. Gesehen hatte er noch keinen.

Es schien alles Dasein auf der Zweiheit, auf den Gegensätzen zu beruhen, man war entweder Frau oder Mann, entweder Landfahrer oder Spießbürger, entweder verständig oder gefühlig – nirgends war Einatmen und Ausatmen, Mannsein und Weibsein, Freiheit und Ordnung, Trieb und Geist gleichzeitig zu erleben, immer mußte man das eine mit dem Verlust des anderen bezahlen, und immer war das eine so wichtig und begehrenswert wie das andere! Die Frauen hatten es hierin vielleicht leichter. Bei ihnen hatte die Natur es so geschaffen, daß von selbst die Lust ihre Frucht trug und aus dem Liebesglück das Kind wurde. Beim Manne war statt dieser einfachen Fruchtbarkeit die ewige Sehnsucht da. War der Gott, der alles so geschaffen hatte, denn böse oder feindselig, lachte er schadenfroh über seine eigene Schöpfung! Nein, er konnte nicht böse sein, wenn er die Rehe und Hirsche, die Fische und Vögel, den Wald, die Blumen, die Jahreszeiten geschaffen hatte. Aber der Riß ging durch seine Schöpfung, sei es nun, daß sie mißglückt und unvollkommen war, sei es, daß Gott eben mit dieser Lücke und Sehnsucht des Menschendaseins besondere Absichten haben mochte, sei es, daß dies der Same des Feindes war, die Erbsünde? Aber warum denn sollte diese Sehnsucht und Ungenüge Sünde sein? Entstand nicht aus ihr alles Schöne und Heilige, was der 263 Mensch geschaffen hatte und Gott als Dankesopfer zurückgab?"


Hermann Hesse, aus "Narziß und Goldmund", Sechzentes Kapitel

Montag, 20. August 2018

Scheitern


"Im Scheitern nämlich erfahren wir unser Begrenztsein. Deshalb ist das Scheitern eine stärkere Erfahrung als der Erfolg. Auf dem Gipfel angekommen zu sein bedeutet, es geschafft zu haben, mehr nicht. Das Ziel ist damit verschwunden. Mit dem Scheitern bleibt das Ziel. Die Verzweiflung darf folgen, als das Begreifenwollen des Scheiterns, als das Fassen der eigenen Grenze. Wie oft bin ich gescheitert!"

Reinhold Messner

Samstag, 20. Januar 2018

Wölfi II


"Jede Lehre hat zum Mittelpunkt den Lehrer, einen Menschen also, welcher Mut, Selbstvertrauen und Pathos genug besaß, sich selbst als Zentrum der Welt zu setzen und von da aus Sinn und Ordnung in die Vielheit der Erscheinungen zu bringen."

Hermann Hesse, aus "Abschied"

Montag, 10. Juli 2017

Lebenskreis (meisterhafter Hesse II)


"Wieder umfaßte Neander im Anblick der vielfarbigen, fernschwebenden Gipfel den Umfang seines inneren Lebens. Er stand auf der Seite des Nordens, er stand auf der Seite des Verzichtes und der unstillbaren Sehnsucht. Der Kampf aber war eingeschlummert. Seit er die Lebenshöhe überschritten hatte und tiefer ins Tal der langen Schatten hinabgestiegen war, hatten seine Gedanken die Flucht vor dem Tode aufgegeben. Von wo er kam, und wohin er ging, schien ihm ein und dasselbe Land. Die lockende Stimme des Lebens, die ihn seit Kinderzeiten vorwärts getrieben hatte, war ihm allmählich zur Stimme des Todes geworden, welche von jenseits rief und der zu folgen nicht minder schön und seltsam war. Leben oder Tod, das waren nur Namen, aber die lockende Stimme war da und sang und zog und hieß ihn im guten Takt der Tage schreiten, und der Weg führte nach der Heimat."

Hermann Hesse, aus "Das Haus der Träume"

Samstag, 25. Februar 2017

Dufte Definitionen

Blickroute, die
Die Distanz, die es einfallsreich zu überbücken gilt, wenn einem ein Bekannter entgegenkommt und man sich schon zugenickt hat, aber noch zu weit entfernt ist, um Worte zu wechseln.

Nachgrinsen, das
Wenn sich zwei Bekannte begegnen und zum Gruß ein Lächeln aufsetzen, bleibt dieses nach dem Passieren als sogenanntes "Nachgrinsen" nach ein Weile im Gesicht stehen. Mit etwas Glück kann man beobachten, wie ein Mensch sich dieser mittlerweile sinnentleerten Maske bewußt wird und versucht, das Nachgrinsen unauffällig wieder in einen neutralen Gesichtsausdruck zu überführen.

Robert von Cube (aus TITANIC)

First World problems: Life is really bitter...



Montag, 14. November 2016

Schlafen sollt ihr!



"Den gesündesten Verstand hat der Mensch, der schläft, und er drückt ihn aus, indem er schnarcht."

Henry David Thoreau, aus Walden

Donnerstag, 28. Juli 2016

Holt sie von den Sockeln!



Holt sie von den Sockeln! Stellt sie bloss! Lösen wir uns endlich einmal von der Vorstellung, seien integre, intelligente, fähige, souveräne Typen. Das Gegenteil ist der Fall. In hierarchischen Strukturen kommt das Gute nie von oben. Obenauf schwimmt der Abschaum. Das Wertvolle ist der Bodensatz. Zu erkennen, welche Typen sich anmassen, Macht über uns auszuüben, ist der erste Schritt zur Rebellion.

- Hans A. Pestalozzi - "Auf die Bäume ihr Affen", Zytglogge 1989

Dienstag, 9. Februar 2016

Fremdes Blut



"Nur die werden als Menschen angesehen, die von gleichem Blut sind oder dem gleichen Boden entstammen; der 'Fremde' ist ein Barbar. Die Folge ist, daß auch ich mir selbst ein 'Fremder' bleibe, da ich die Menschheit nur in der verkrüppelten Form erleben kann, die durch die Gruppe mit gemeinsamen Blut repräsentiert wird."

Erich Fromm - "Die Seele des Menschen"

Freitag, 18. Dezember 2015

Deppenkluft


Das Problem dieser Welt ist, dass die intelligenten Menschen so voller Selbstzweifel und die Dummen so voller Selbstvertrauen sind.

Charles Bukowski