"In den ersten Zeiten seiner neuen Wanderschaft, im ersten gierigen
Taumel der wiedergewonnenen Freiheit, mußte Goldmund erst wieder
lernen, das heimatlose und zeitlose Leben der Fahrenden zu leben.
Keinem Menschen gehorsam, abhängig nur von Wetter und Jahreszeit,
kein Ziel vor sich, kein Dach über sich, nichts besitzend und allen
Zufällen offen, fuhren die Heimatlosen ihr kindliches und tapferes,
ihr ärmliches und starkes Leben. Sie sind die Söhne Adams, des aus
dem Paradies Vertriebenen, und sind die Brüder der Tiere, der
unschuldigen. Aus der Hand des Himmels nehmen sie Stunde um Stunde,
was ihnen gegeben wird: Sonne, Regen, Nebel, Schnee, Wärme und
Kälte, Wohlsein und Not, es gibt für sie keine Zeit, keine
Geschichte, kein Streben und nicht jenen seltsamen Götzen der
Entwicklung und des Fortschritts, an den die Hausbesitzer so
verzweifelt glauben. Ein Vagabund kann zart oder roh sein,
kunstfertig oder tölpisch, tapfer oder ängstlich, immer aber ist er
im Herzen ein Kind, immer lebt er am ersten Tage, vor Anfang aller
Weltgeschichte, immer wird sein Leben von wenigen einfachen Trieben
und Nöten geleitet. Er kann klug sein oder dumm, er kann tief in
sich wissend sein, wie gebrechlich und vergänglich alles Leben ist
und wie arm und angstvoll alles Lebendige sein bißchen warmes Blut
durch das Eis der Welträume trägt, oder er kann bloß kindisch und
gierig den Befehlen seines armen Magens folgen – immer ist er der
Gegenspieler und Todfeind des Besitzenden und Seßhaften, der ihn
haßt, verachtet und fürchtet, denn er will nicht an all das
erinnert werden: nicht an die Flüchtigkeit alles Seins, an das
beständige Hinwelken alles Lebens, an den unerbittlichen eisigen
Tod, der rund um uns das Weltall erfüllt.
Die Kindlichkeit des
Vagantenlebens, seine mütterliche Herkunft, seine Abkehr von Gesetz
und Geist, seine Preisgegebenheit und heimliche immerwährende
Todesnähe hatten längst Goldmunds Seele tief ergriffen und geprägt.
Daß dennoch Geist und Wille in ihm wohnte, daß er dennoch ein
Künstler war, machte sein Leben reich und schwierig. Jedes Leben
wird ja erst durch Spaltung und Widerspruch reich und blühend. Was
wäre Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch, was wäre
Sinnenlust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde, und was wäre
Liebe ohne die ewige Todfeindschaft der Geschlechter?"
Hermann Hesse, aus "Narziß und Goldmund", Dreizehntes Kapitel
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